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18. Oktober 2021

Senatsempfang für die Evangelische Stiftung Alsterdorf anlässlich des 200. Geburtstags von Pastor Sengelmann

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Rede des Ersten Bürgermeisters Dr. Peter Tschentscher. Es gilt das gesprochene Wort.

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Sehr geehrter Herr Dr. von Trott,
sehr geehrter Herr Kruschinski,
sehr geehrter Ehrenbürger Herr Professor Otto,
sehr geehrter Herr Vizepräsident der Hamburgischen Bürgerschaft,
sehr geehrte Damen und Herren,    

herzlich willkommen im Hamburger Rathaus zum Senatsempfang anlässlich des 200. Geburtstags von Heinrich Matthias Sengelmann. 

Diesen besonderen Anlass feiern wir aufgrund der Corona-Pandemie nachträglich, denn das genaue Geburtsdatum von Pastor Sengelmann ist der 25. Mai 1821. 

Ihm hätte diese Verschiebung des Termins für eine echte Feier in Präsenz vermutlich gefallen, denn er legte Wert auf persönliche Begegnungen. 

Und auch sein großes Werk, die Gründung der heutigen Evangelischen Stiftung Alsterdorf, ist auf eine solche zurückzuführen. 

Für Heinrich Matthias Sengelmann wurde die Begegnung mit Carl Koop zu einem Schlüsselmoment – ein Junge, der sich in schlimmer Armut befand und trotz geistiger Behinderung völlig sich selbst überlassen war. 

Es war die Zeit der Industrialisierung. Viele Menschen kamen damals nach Hamburg, um Arbeit zu finden. Die Bevölkerung wuchs, Wohnungen waren knapp. 

Im Gängeviertel und rund um den Michel, wo der junge Pastor Sengelmann tätig war, entstanden Elendsquartiere, in denen sich Krankheiten ausbreiteten. 

Kinder wurden zur Arbeit statt zur Schule geschickt. Wer mit einer Behinderung in dieser Welt lebte und nicht mithalten konnte, fand in den Familien oder in der Nachbarschaft keine Unterstützung. 

Sengelmann startete einen Spendenaufruf und kaufte mit dem Erlös und privaten Mitteln ein kleines Fachwerkhaus auf dem Land in der Nähe von Alsterdorf. 

Dort zog er am 19. Oktober 1863 als Betreuer mit vier geistig behinderten Jungen ein. Dieser Tag gilt als Gründungsdatum der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. 

Sengelmann hat die Sicht auf Menschen mit Behinderung und ihre Entwicklungsmöglichkeiten grundlegend verändert. 

Er war überzeugt, dass man selbst mit schweren Einschränkungen lernen und eine sinnvolle Tätigkeit ausüben kann. 

Menschen mit Behinderungen sollten nicht nur versorgt werden, sondern eine Schulbildung erhalten, handwerkliche Fähigkeiten erlernen und dadurch eigenständiger leben können. 

So viel Fürsorge wie nötig, so viel Selbstbestimmung wie möglich – dieser Grundsatz prägt die Arbeit der Stiftung Alsterdorf bis heute. 

Sengelmann entwickelte Modelle, wie sich soziale Arbeit finanzieren lässt, engagierte sich für den wissenschaftlichen Austausch und gründete ein Forum für die fachübergreifende Zusammenarbeit. 

Als erster Pastor war er übrigens kurzzeitig Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft. Außerdem war er bestens vernetzt und ging die Dinge pragmatisch an. Er wusste Gelder zu akquirieren, größere Projekte zu planen und umzusetzen.

In Alsterdorf baute er Schulen, Wohngebäude, Werkstätten und Anlagen für Gartenbau und Landwirtschaft. Das war der Beginn der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, die heute die größte Einrichtung für behinderte Menschen in Deutschland ist.

Wie viele große Institutionen in Deutschland ist auch die Stiftung Alsterdorf verstrickt in schlimme Ereignisse während des Nationalsozialismus, die sie aufarbeitet und die in einem harten Kontrast stehen zu den Zielen und der Haltung Sengelmanns. 

Auf die heutige Arbeit der Stiftung wäre der Gründer vermutlich stolz: auf die Arbeit der Kitas und Schulen, Kliniken und Pflegedienste, Bildungs- und Jugendhilfeeinrichtungen an insgesamt 180 Standorten in Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen. 

Das Alsterdorfer Fachwerkhaus aus den Gründungstagen steht noch immer. In seiner Nachbarschaft am Alsterdorfer Markt ist ein europaweit beispielhaftes Modellquartier für soziale Integration entstanden. 

Aus einer ursprünglichen geschlossenen Anstalt an der Sengelmannstraße wurde ein für alle offenes Quartier. 

Ein barrierefreier Treffpunkt mit Läden, Gastronomie, Wochenmarkt und Kultur, der die Menschen der benachbarten Stadtteile und der Alsterdorfer Einrichtungen gleichermaßen anspricht und zeigt, wie Inklusion im Alltag praktisch gelingen kann. 

Integration und Teilhabe sind heute ein grundlegender Bestandteil der Hamburger Stadtteilentwicklung. 

In allen Quartieren achten wir auf Barrierefreiheit im öffentlichen Raum, sorgen für Wohnungen mit Unterstützungsangeboten und Treffpunkte, an denen Menschen mit und ohne Assistenzbedarf zusammenkommen. 

Damit Teilhabe im Alltag gelingt, muss es Angebote geben, die es leicht machen, dass sich Menschen mit und ohne Behinderung auf Augenhöhe begegnen.

Einen Beitrag dazu leistet zum Beispiel die Hamburger Veranstaltungsreihe „Zeit für Inklusion“: noch bis zum 14. Dezember laden Vereine, Kultureinrichtungen und Stadtteil-treffpunkte zum Austausch und zu gemeinsamen Aktivitäten ein. 

Hamburg setzt sich in allen gesellschaftlichen Bereichen für die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung ein: am Arbeitsplatz, in den Schulen, in Sport- und Freizeiteinrichtungen, im Öffentlichen Nahverkehr und bei digitalen Angeboten. 

Dabei wird die Stadt von der Senatskoordinatorin für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen unterstützt – am 1. Oktober hat Ulrike Kloiber dieses wichtige Amt übernommen. 

Seit März dieses Jahres wird der Hamburger Plan zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention aktualisiert und fortgeschrieben. 

Alle Bürgerinnen und Bürger sind aufgerufen, ihre Erfahrungen einzubringen und Vorschläge zu machen, wie Hamburg noch barrierefreier und inklusiver werden kann. 

Die Evangelische Stiftung Alsterdorf unterstützt die Entwicklung inklusiver Quartiere, erprobt neue Wohnformen und trägt maßgeblich dazu bei, dass Menschen im Rahmen des Hamburger Eingliederungsmodells in den Arbeitsmarkt zurückfinden. 

Sie ist damit eine wichtige Partnerin der Stadt bei der Umsetzung der „UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“. 

Sehr geehrte Damen und Herren,

der 200. Geburtstag von Heinrich Matthias Sengelmann erinnert daran, wie lang der Weg war, bis die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung als selbstverständlich anerkannt wurde. 

Auf diesem Weg haben sich seit der Zeit von Pastor Sengelmann viele Menschen persönlich eingesetzt und mitgewirkt. 

Ich danke der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, allen haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihr Engagement.

Im Namen des Senats und der gesamten Stadt sage ich: herzlichen Glückwunsch zum 200. Geburtstag von Heinrich Matthias Sengelmann!