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Friedrich Schütter

(4.1.1921 Düsseldorf – 17.9.1995 Hamburg)
Schauspieler, Intendant, Mitbegründer des Ernst-Deutsch-Theaters, Gründungsmitglied des Jungen Theaters
Friedrich-Schütter-Platz , Uhlenhorst seit 2001

Friedrich Schütter war der Sohn von Friedrich (geb.7.1.1897) 1) und Emilie Schütter (geb. ca. 1893). Als Friedrich Schütter drei Jahre alt war, wanderten seine Eltern 1924 mit ihm von Hamburg mit einem Ticket der 3. Klasse auf dem Dampfschiff „Curvello“ nach Brasilien aus. Zielhafen war Rio de Janeiro. Die Hamburger Passagierliste vermerkte als Beruf des Vaters: landwirtschaftlicher Arbeiter. 2) In Brasilien avancierte Friedrich Schütter senior zum Hotelbesitzer.  

Im Januar 1932, im Alter von elf Jahren, kehrte Friedrich Schütter junior mit seiner Mutter zurück nach Deutschland, wo sie sich in Hamburg niederließen. Friedrich Schütter besuchte von Februar 1932 bis März 1937 die Volksschule Berliner Tor 27 und erhielt dort am 31.3.1937 sein Abgangszeugnis.3)
1934 trat der damals 13-Jährige der Hitlerjugend bei und verblieb dort bis zu seinem 16. Lebensjahr (bis zum 31.3.1937). Damals verfügte die Jugendorganisation der NSDAP über 3,6 Millionen Jugendliche. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten hatte eine gewaltige Werbekampagne begonnen, um Kinder/Jugendliche ab dem 10. Lebensjahr zum Eintritt in die HJ zu motivieren.
1937 begann Friedrich Schütter eine Ausbildung in der Drogerie Hubel am Steindamm 148, wechselte aber aus finanziellen Gründen bereits 1938 zur Reederei John T. Essberger, wurde Steward-Assistent und verdiente weitaus mehr Geld. Als Grund für den Wechsel vom Drogerielehrling zum Steward-Assistenten gab Friedrich Schütter an, seine Mutter finanziell unterhalten zu müssen. „Ich musste Geld verdienen.“4) In der Drogerie Hubel verdiente er damals nur 120,- RM, bei Essberger schon 1800,- bis 2400,- RM.

Ca. im März 1939 ein erneuter beruflicher Wechsel: diesmal zur Südamerikanischen-Dampfschifffahrtsgesellschaft, wo er nach seiner Steward-Prüfung ca. im Mai 1939 als Steward tätig wurde. Mit dieser Tätigkeit verdiente er 3000-4000 RM. Als Grund für den Wechsel zur Dampfschiffgesellschaft gab er an, auf einem Passagierdampfer sich weiter ausbilden und auch eine andere Route fahren zu wollen.5) In seiner Zeit als Steward von September 1938 bis Oktober 1939 bereiste er verschiedene Länder, so zum Beispiel die USA, Japan, Südafrika und Brasilien. Für seine Teilnahme an der Blockadefahrt des Dampfers „General Artigas“ vom 1.9.1939 bis 16.10.1939 erhielt er das Blockadebrecher Abzeichen. 6) Es wurde Schiffsbesatzungen von deutschen Schiffen verliehen, die bei Kriegsausbruch sich im Ausland befanden „und trotz der alliierten Blockade“ nach Deutschland zurückkehrten. 7)

Zwischen dem 20.Dezember 1939 und 1940 arbeitete Friedrich Schütter als Kellner in einem Bahnhofsrestaurant. Diese Tätigkeit brachte ihm ein noch höheres Gehalt ein (6000-9000,- RM) 8).
Am 21. Mai 1940 wurde Friedrich Schütter mit 19 Jahren zur Wehrmacht einberufen, Dienstgrad: Schütze. Vom 31.5.1940 bis 31.12.1940 war er Rekrut, wurde dann zum Oberschützen befördert, fungierte als Ausbilder und Richtschütze, war in Holland, Russland, Lettland, Litauen stationiert, erhielt den Dienstgrad Gefreiter und war als Gewehr-Führer eingesetzt.

Er erhielt im Zweiten Weltkrieg mehrere Auszeichnungen, so u. a. das EK II. Klasse mit Schwertern (22.12.1941) und das Tapferkeit Inf. Sturm-Abz. in Silber.

Während des Zweiten Weltkrieges erlitt der Gefreite Friedrich Schütter eine Kopfschussverletzung, was zu Lähmungserscheinungen und Epilepsie führte. Friedrich Schütter musste eine Zeit lang in Lazaretten verbringen und wurde im September 1942 im Rang eines Unteroffiziers ohne Tätigkeit aus dem Heer entlassen. 9)

Nach seiner Entlassung aus dem Wehrdienst wandte sich Friedrich Schütter wieder der Hitlerjugend zu (Mitgliedschaft vom 5.3.1942 bis 3.5.1945) und erhielt am 1.10.1942 eine Anstellung bei der HJ Gebiet Hamburg Nagelsweg 10 im Dienstgrad eines Oberscharführers.

Friedrich Schütter wurde Mitarbeiter K-Führer des Bannes Bergedorf. Zum 1. Juli 1943 wurde er zum HJ Bann (422) Bergedorf, Reinbekerweg 1 versetzt, wo er bis zum 3.5.1945 blieb. Er bekleidete ab dem 1.7.1943 den Rang eines Komm. Bannführers.

Nachdem er vom 2.1.1944 bis zum 31.1.1944 die Akademie für Jugendführung- und Erziehung in Braunschweig besucht hatte, 10) die „höchste nationalsozialistische Schulungseinrichtung zur Ausbildung hauptamtlichen Führungsnachwuchses für die Hitlerjugend (HJ) während der Zeit des Nationalsozialismus“ 11), wurde er am 21.6.1944 zum Hauptgefolgschaftsführer der HJ ernannt.
Friedrich Schütter hielt im Auftrag der Reichs-Jugendführung Ansprachen an die HJ des Bannes Bergedorf, so im Februar/März 1944 unter dem Titel „Verpflichtung der Jugend“. Diese Propaganda- Ansprachen wurden in Bergedorf, Neuengamme, Kirchwerder und Ochsenwerder gehalten. Ca. 120 bis 250 Personen nahmen an den Ansprachen als Zuhöhrende teil. Eine weitere Ansprache hielt Friedrich Schütter am 20.4.1944 in Bergedorf vor 400 Zuhöhrenden anlässlich des Geburtstages von Adolf Hitler.
Im Dezember 1943 und Dezember 1944 hielt er in Bergedorf (hier nur 1943), Neuengamme, Kirchwerder und Ochsenwerder vor 350-400 Zuhörenden einen Vortrag über „Kriegsweihnachten“, und im November 1943 sowie 1944 eine Rede in Bergedorf vor 400 Zuhöhrenden zum Thema „9. November 1923“.12)

Friedrich Schütter war vom 1.1.1944 bis 3.5.1945 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnummer: 9663594).13)
Bereits im September 1942 war ein Antrag auf Mitgliedschaft gestellt, dieser aber abschlägig beschieden worden. Damals hatte der Gauschatzmeister der NSDAP Hamburg in einem Schreiben an den Reichsschatzmeister der NSDAP den Aufnahmeantrag Friedrich Schütters „unter Bezugnahme auf die Anordnung des Reichsschatzmeisters 29/42 vom 11. v. Mts., betreffend Verlängerung der Vorlagefrist von Aufnahmeanträgen Angehöriger der Hitlerjugend und des Bundes deutscher Mädel in die NSDAP“ 14) eingereicht und nachgefragt: „ob im Hinblick auf die nachgewiesene Einsatzbereitschaft des Antragsstellers und seiner erlittenen schweren Verletzungen dem Antrage im Rahmen der diesjährigen HJ-Überführungen entsprochen werden kann, weil Schütter das hierfür vorgesehene Aufnahmealter bereits um 3 Jahre überschritten hat.“ 15)

Daraufhin erfolgte am 12.12.1942 ein ablehnendes Antwortschreiben, in dem es u. a. heißt: „Friedrich Schütter wurde zur Aufnahme in die NSDAP bei der Reichsleitung bisher nicht angemeldet. Den Ausführungen Ihres (…) Schreibens habe ich entnommen, dass es der Genannte im Jahre 1939 irrtümlich unterlassen hat, auf Grund seiner Zugehörigkeit zur HJ die Überführung in die NSDAP im Zuge der Anordnung 63/37 vom 2.10.37 zu beantragen. (…) Dem Antrag auf ausnahmsweise nachträgliche Aufnahme gemäss Anordnung 63/37 kann im Hinblick auf die Überschreitung der hierfür vorgesehenen Altersgrenze grundsätzlich nicht stattgegeben werden.“16)

Ein Jahr später, am 1.9.1943, stellte Friedrich Schütter erneut einen Antrag auf Mitgliedschaft in der NSDAP, woraufhin er dann zum 1.1.1944 in die NSDAP aufgenommen wurde.

Friedrich Schütter war von Januar 1944 bis 1945 auch Mitglied im NSKOV (Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung), eine der NSDAP angeschlossene Wohlfahrtsorganisation für Schwerkriegsbeschädigte und Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs. 17) „Die Unterstützungsleistungen für Kriegsbeschädigte wurden maßgeblich nach politischen Gesichtspunkten zugeteilt und bemessen.“ 18)

In seinem Entnazifizierungsfragebogen antwortete er auf die Frage: „Sind Sie mit Personen verwandt oder verschwägert, die jemals Amt. Rang oder Maßgebende Stellungen in einer unter Nr. 41 bis 95 angeführten Organisationen inne hatten?“, „Ja: Walter Schnell, Kirchwärder 3, Durchdeich 12, Schwiegervater, SA-Verwaltungs-Obertruppführer.“19)

Im Dezember 1943 hatte Friedrich Schütter Mally Schnell aus Kirchwerder geheiratet. Am 9.9.1943 war die gemeinsame Tochter Heike geboren worden. Das Paar lebte damals bei den Schwiegereltern am Durchdeich 12 in Kirchwerder.20)

Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus befand sich Friedrich Schütter vom 21.5. 1945 bis 7.8.1946 im Internierungslager der britischen Militärregierung in Neumünster. Nach seiner Entlassung wurde er am 31.3.1947 in den 980 CAR COY, RASC (Royal Army Service Corps) Iserbrook-Reading-Barracks Angestellter für Büro- und Schreibarbeiten. 21)

Im Zuge seines Entnazifizierungsverfahrens wurde Friedrich Schütter im Oktober 1947 in die Stufe V: entlastet, eingestuft. Dazu heißt es im Fragebogen Action Sheet: „Der beratende Ausschuß hatte Bedenken, Sch. als politisch harmlos anzusehen, weil er eine große Anzahl von Ansprachen gehalten hat. In Anbetracht dessen, daß Sch. Kriegsversehrter der Versehrtenstufe IV ist, hat der beratende Ausschuß keine Bedenken, auf Sch. die Jugendamnestie zur Anwendung zu bringen. Der beratende Ausschuß empfiehlt, Sch. unter Bezugnahme auf die Jugendamnestie zu rehabilitieren. 16.10.1947.“ 22)

Die Jugendamnestie vom August 1946 galt für die Jahrgänge ab 1919. „Sie befreite die nach dem 1. Januar 1919 Geborenen, mit Ausnahme der Kriegsverbrecher und aktiven Nationalsozialisten, von der Entnazifizierungspraxis der Spruchkammern. Die Amnestie bescheinigte der deutschen Jugend, in ihrer Gesamtheit keine Mitschuld an den Verbrechen der Nationalsozialisten zu tragen, (…).“ 23)
Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und seiner Internierung wandte sich Friedrich Schütter der Schauspielkunst zu, nahm Schauspielunterricht und gehörte ab 1949 zum Ensemble des Deutschen Schauspielhaus.1951 gründete Schütter zusammen mit dem Schauspieler Wolfgang Borchert das Junge Theater in Hamburg. Ihr Ziel war, eine Bühne für zeitgenössische Dramatik und Nachwuchsförderung zu schaffen.

Am vierten Todestag des Schauspielers Ernst Deutsch (1890 Prag – 1969 Werst-Berlin) ließ Friedrich Schütter das Junge Theater in Ernst Deutsch Theater umbenennen als Reminiszenz an Ernst Deutsch‘s herausragende Darstellung von Lessings „Nathan der Weise“. Der Schauspieler Ernst Deutsch (1890-1969), der nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wegen seiner jüdischen Herkunft emigrieren musste und 1947 nach Europa zurückkehrte, hatte erst zugestimmt, die Rolle des Nathan am Jungen Theater zu spielen, nachdem er ein intensives Gespräch mit Friedrich Schütter geführt hatte, in dem Schütter ihm auch seine Erlebnisse in der Zeit des Nationalsozialismus schildern sollte. Ernst Deutsch fragte ihn daraufhin, ob es nicht schrecklich sei, wozu die jungen Menschen gezwungen worden seien. Friedrich Schütter antwortete ihm, dass es ihm sehr leidtue, ehrlich sagen zu müssen, dass er zu nichts gezwungen worden sei. Daraufhin gab Ernst Deutsch seine Zusage, den Nathan am Jungen Theater zu spielen und begründete seine Zusage damit, dass Friedrich Schütter der erste gewesen sei, der ihm gegenüber nicht behauptet habe, dass er zu dem, was er getan habe, nicht gezwungen worden sei.

Friedrich Schütter setzte sich aktiv mit den Verbrechen des NS-Regimes auseinander, machte seine antifaschistische Haltung auch in der Öffentlichkeit deutlich und ließ als Direktor des Ernst-Deutsch-Theaters Stücke spielen, die sich mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzen. Auch war er mit der Schauspielerin und Intendantin der Kammerspiele Ida Ehre aktiv im Verbund „Künstler für den Frieden“.
Als Anfang der 1990er Jahre Flüchtlingsheime brannten, bekam Friedrich Schütter zeitweise Personenschutz. Er wurde von der neuen Nazi-Szene bedroht, weil er sehr exponiert in seiner Haltung sowohl gegenüber dem Unrechtsregime des Nationalsozialismus als auch gegenüber der neuen Rechtsextremisten Szene auftrat.  

Für seine eigene NS-Vergangenheit machte Friedrich Schütter in der Öffentlichkeit die NS-Propaganda verantwortlich. Seine NS-Aktivitäten als Führungskraft in der HJ erwähnte er dabei allerdings nicht. So äußerte er zum Beispiel 1985 in einem Interview mit der Hamburger Morgenpost: „Erst langsam kam mir zu Bewußtsein, was unselige Propaganda und Befehle angerichtet hatten. ‚Ganz fertig‘ war ich schließlich, als ich erfuhr, wie die ‚Führung‘ geendet hatte. Jetzt erst begriff ich – und fühlte es im tiefsten Herzen – welcher fürchterlichen Sache ich gedient, welchem Schwindel ich aufgesessen war. (…) aus der gedanklichen Verarbeitung heraus entstand der Wille, sich nun dafür einzusetzen, daß ein Hitler, eine Diktatur, ein Krieg, Konzentrationslager, Judenvernichtung (…) …, daß dieses nicht noch einmal sein darf.

Ich, wir alle mußten lernen zu begreifen, was Demokratie ist. Denn die kannten wir ja bis dahin noch nicht. Welch ein Glück, daß ich erst 24 Jahre alt war und nach meiner Entlassung aus dem Kriegsgefangenen-Lazarett rechtzeitig und ganz schnell mit dem Lernen beginnen konnte.“ 24)
Friedrich Schütter, der auch in Kinofilmen und Fernsehserien auftrat, erhielt viele Auszeichnungen, so 1951 die Medaille für Kunst und Wissenschaft, 1971 den Ehrenpreis Silberne Maske der Hamburger Volksbühne und 1984  die Auszeichnung als Ehren-Schleusenwärter.

Nach seinem Tod trat seine vierte Ehefrau, die Schauspielerin und promovierte Medizinerin, Isabella Vértes-Schütter, die ihn 1989 im Ernst Deutsch Theater kennengelernt und ihn 1990 geheiratet hatte, seine Nachfolge als Theater Intendantin an.

Quellen:
1) Freundliche Mitteilung von Christian Römmer, KZ-Gedenkstätte Neuengamme
2) Hamburger Passagierlisten 1850-1934, in: ancestry.
3) Staatsarchiv Hamburg, 221-11 LA 5952. Entnazifizierungsfragebogen (Military Government of German)
4) Ebenda.
5) Ebenda.
6) Ebenda.
7) Wikipedia: Abzeichen für Blockadebrecher, unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Abzeichen_f%C3%BCr_Blockadebrecher (abgerufen: 20.7.2023.)
8) Vgl.: Staatsarchiv Hamburg, 221-11 LA 5952. Entnazifizierungsfragebogen (Military-Government of German).
9) Vgl.: Ebenda.
10) Vgl.: ebenda.
11) Wikipedia Eintrag: Akademie für Jugendführung, unter:
 

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NS-Dabeigewesene

Aufsätze

Erklärung zur Datenbank

Stand Januar 2024: 914 Kurzprofile und 332 sonstige Einträge.

Diese Datenbank ist ein Projekt in Fortsetzung (work in progress). Eine Vollständigkeit ist niemals zu erreichen. Sie startete online im Februar 2016 mit rund 520 Profilen und mehr als 200 weiteren Einträgen und wird laufend ergänzt und erweitert werden. Wissenschaftliche Institute, Gedenkstätten, Universitäten und zum Thema forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können gern ihre erarbeiteten Profile in diese Datenbank stellen lassen.

Quellenangaben, die sich auf Webseiten beziehen, sind die zum Zeitpunkt der Recherche gefundenen. Sollten Sie veraltete Links oder Aktualisierungen bzw. Verschiebungen der Inhalte feststellen, freuen wir uns über Hinweise.

Vor etlichen Jahren hat die Landesszentrale für politische Bildung Hamburg die Stolperstein-Datenbank www.stolpersteine-hamburg.de ermöglicht und gibt seit rund zehn Jahren gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der Deutschen Juden unter der Projektleitung von Dr. Beate Meyer und Dr. Rita Bake von der Landeszentrale für politische Bildung die Publikationsreihe „Stolpersteine in Hamburg, biografische Spurensuche“ heraus. Mit dieser Datenbank „Die Dabeigewesenen“ möchte die Landeszentrale für politische Bildung nun den Blick auf diejenigen lenken, die das NS-System stützten und mitmachten. Denn:

Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht,
muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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